Abschiedskultur: Vom Leben zum Sterben
Der Abschied vom Leben ist eine tief berührende und unvermeidbare Erfahrung, die jeden Menschen betrifft. Eine Abschiedskultur umfasst weit mehr als nur die Sterbebegleitung; sie schafft einen speziellen Rahmen, um Raum für das sensible Thema des Sterbens und des Todes zu geben. In unserer Gesellschaft wird dieses Thema oft aus Angst und Unsicherheit heraus vermieden, doch ein bewusster und respektvoller Umgang mit dem Abschied kann sowohl für die Sterbenden als auch für die Hinterbliebenen erheblichen Trost bieten.
Die Bedeutung der Abschiedskultur
Eine Abschiedskultur beginnt nicht erst mit dem Tod, sondern schon lange vorher. Es geht darum, den Prozess des Abschiednehmens bewusst zu gestalten und zu erleben. Dieser Prozess ist nicht einseitig, sondern betrifft auch die Sterbenden. Die Möglichkeit, sich bewusst von der Welt und den geliebten Menschen zu verabschieden, kann den Sterbenden ein Gefühl von Frieden und Vollendung geben.
Heutzutage sterben viele Menschen nicht mehr zu Hause im Kreis ihrer Angehörigen, wie es früher oft der Fall war. In Deutschland endet das Leben mittlerweile bei drei von vier Menschen in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen.
In stationären Einrichtungen wie Pflegeheimen und Hospizen ist es besonders wichtig, dass Angehörige die Möglichkeit haben, bei ihren Liebsten zu bleiben – sowohl tagsüber als auch nachts. Der Bewohner oder Gast einer solchen Einrichtung sollte durch den Haupteingang eintreten und diesen auch wieder durch den Haupteingang verlassen. Diese symbolische Handlung betont die Würde und den Respekt gegenüber dem Verstorbenen.
Rituale in der Abschiedskultur
Rituale spielen eine zentrale Rolle in der Abschiedskultur, da sie Halt und Struktur in einer Zeit bieten, die oft von Chaos und Unsicherheit geprägt ist. Einige stationäre Einrichtungen und Hospize bieten Gedenkgottesdienste an, die den Hinterbliebenen einen gemeinsamen Raum zur Trauerbewältigung geben.
Ein bedeutendes Ritual ist die Versorgung des Verstorbenen gemeinsam mit den Angehörigen. Auch Kinder sollten dabei einbezogen werden, um den Tod besser zu verstehen. „Erfassen durch Anfassen“ und „Begreifen durch Greifen“ sind zentrale Konzepte dieses Rituals. Dabei geht es nicht primär um hygienische Aspekte, sondern um das bewusste Erleben und Verarbeiten des Todes. Viele beginnen während der Versorgung des Verstorbenen zu erzählen, was oft eine positive Stimmung erzeugt und hilft, Ängste und Berührungsängste abzubauen.
Weitere Rituale umfassen das Öffnen des Fensters, um der Seele des Verstorbenen die Möglichkeit zu geben, zu gehen, und das Anhalten der Uhren, um symbolisch zu zeigen, dass die Zeit in der Gegenwart des Verstorbenen stillsteht. Das Aufbahren des Verstorbenen dient dem Verabschiedungsprozess und hilft den Hinterbliebenen, die Endgültigkeit des Todes zu realisieren.
Persönliche Abschiedsrituale
Individuelle Wünsche und Vorstellungen sollten bereits im Voraus besprochen werden. Rituale wie Gebete, Düfte, Kerzen, Musik, Bilder und ein Abschiedsbuch bieten bleibende Erinnerungen für die Hinterbliebenen. In ein solches Buch können Gedichte, Abschiedsbriefe und Fotos eingeklebt werden, was den Trauerprozess unterstützt und die Erinnerungen an den Verstorbenen lebendig hält.
Es ist wichtig zu wissen, dass Trauer ein natürlicher Prozess ist und es kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Jeder Mensch trauert auf seine eigene Weise und sollte die Freiheit haben, seine Gefühle so auszudrücken, wie es ihm entspricht.
Sterbebegleitung: Eine prägende Erfahrung
Erfahrungen in der Sterbebegleitung prägen sich tief ein, ob sie nun gut oder schlecht sind. Eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus dem Jahr 2020 zeigt, dass solche Erfahrungen bei den Hinterbliebenen Wünsche und Sorgen hinsichtlich des eigenen Sterbens hervorrufen und dadurch eine zwangsweise Auseinandersetzung mit dem Thema Tod fördern. 90 Prozent der Menschen, die sich bereits um Sterbende gekümmert haben, sprechen zumindest selten über das Sterben, während es unter jenen ohne diese Erfahrung nur 72 Prozent sind.
Besonders jüngere Menschen trifft eine Sterbebegleitung oft unvorbereitet; 46 Prozent der Befragten zwischen 16 und 29 Jahren gaben an, damit überfordert gewesen zu sein.
Die Rolle der Palliativmedizin
Palliativmediziner wie Petra Anwar, die seit mehr als 20 Jahren Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet, sehen ihre Aufgabe darin, Patienten zu umhüllen und vor unerträglichem Leid zu schützen. Das lateinische Wort „Pallium“, von dem der Begriff „palliativ“ stammt, bedeutet „Mantel“. Ein gutes Sterben kann für jeden etwas anderes bedeuten – für manche ist es das sanfte Einschlafen, für andere das letzte Atemholen im Kreis der Familie.
Anwar betont, dass der Großteil der Menschen zu Hause sterben möchte, es aber oft nicht ausspricht aus Angst, jemandem zur Last zu fallen. In solchen Fällen entscheiden sich viele für ein Hospiz, obwohl ihr eigentlicher Wunsch ein anderer ist. Es ist wichtig, dass Menschen am Ende ihres Lebens sie selbst sein dürfen und nicht das Gefühl haben, sich zurücknehmen zu müssen.
Hinweis: Hier geht es zu unserem Artikel „Begleitung von Menschen in der letzten Lebensphase“
Fazit: Abschiedskultur als lebensbegleitender Prozess
Eine bewusste und respektvolle Abschiedskultur bietet sowohl Sterbenden als auch ihren Angehörigen Unterstützung und Trost. Rituale und individuelle Abschiedsprozesse spielen dabei eine zentrale Rolle, um den Tod zu begreifen und zu verarbeiten. Die Einbeziehung der gesamten Gemeinschaft – sei es im familiären Umfeld, in stationären Einrichtungen oder am Arbeitsplatz – kann die Auseinandersetzung mit dem Tod erleichtern und den Trauerprozess unterstützen.
Abschiedskultur ist mehr als nur eine Reaktion auf den Tod; sie ist ein lebensbegleitender Prozess, der uns lehrt, mit dem Unvermeidlichen umzugehen, und uns daran erinnert, die kostbare Zeit, die wir miteinander haben, zu schätzen. Indem wir uns dem Thema Tod und Sterben offen und respektvoll nähern, können wir eine Kultur des Abschieds schaffen, die das Leben in all seinen Facetten würdigt und die Angst vor dem Unbekannten mindert.